Montag, 5. Juli 2010

Die sieben Geheimnisse des deutschen Erfolges

Stefan Frommann, Volker Zeitler, Sven Flohr, Lutz Teske
Für die überragenden Leistungen der deutschen Nationalelf bei der WM gibt es viele gute Gründe – WELT ONLINE nennt die wichtigsten.
Die deutsche Nationalelf spielt in Südafrika schönen und erfolgreichen Fußball
1. Die Jugend
Unsere jungen Fußballer dribbeln sich in Südafrika durch alle gegnerischen Reihen und direkt hinein in unsere Herzen. In Berlin wird die Fanmeile wieder zur Love-Parade. Bum. Bum. Bum. Weil der deutsche Fußball so erfrischend jung ist wie das Lachen von Lena. Unschuldig, offensiv, einfach wunderbar anzuschauen.

1980 trat eine vergleichbar junge, unerfahrene Mannschaft bei der Europameisterschaft in Italien an. Mit Spielern, die kein Gegner kannte: Schumacher, Förster, Schuster, Hrubesch. Sie alle spielten ebenso ihr erstes Turnier wie jetzt Khedira, Müller, Özil und Cacau. Damals gewann die deutsche Mannschaft sensationell den Titel und wurde zwei Jahre später Weltmeisterschaftszweiter.
Die Nationalelf 2010 ging sogar noch unbeschwerter in dieses Turnier als die Elf von 1980. Kaum jemand erwartete von einem 20-Jährigen wie Thomas Müller auf Anhieb den Titel, weil jeder weiß: Das Sommermärchen 2006 erlebte Müller noch selbst beim Public Viewing.
Der starke Nachwuchs kommt nicht von ungefähr. 2005 forcierte der neu eingestellte Sportdirektor Matthias Sammer für den Verband die Nachwuchsarbeit. Seitdem ist es Lizenzbedingung für Bundesligavereine, ein eigenes Nachwuchszentrum zu betreiben. Die Folgen lassen sich sehen: 2008 wurde die U19 Europameister, 2009 auch die U17 und U21. Der aktuelle WM-Kader ist mit 24,96 Jahren der zweitjüngste aller Zeiten.
2. Das Team
Der ehemalige Chrysler-Vorstand Lee Iacocca, in den USA ein anerkannter Topmanager, sagte einmal: „Letzten Endes kann man alle wirtschaftlichen Vorgänge auf drei Worte reduzieren: Menschen, Produkte und Profite. Die Menschen stehen an erster Stelle. Wenn man kein gutes Team hat, kann man mit den beiden anderen nicht viel anfangen.“ Übertragen auf den Fußball heißen die drei Worte: Menschen, Spiele, Siege.
Joachim Löw hat die richtigen Spieler für ein starkes Team dabei (nicht einmal Kevin Kuranyi wird noch vermisst) und hat sie gefomt. Statt seine Spieler täglich fünfmal zu umarmen, wie es Maradona tat, setzte Löw auf Teambuilding-Maßnahmen. Im WM-Trainingslager in Südtirol ließ er die Spieler im Wald über ein in rund zwei Meter Höhe gespanntes Seil balancieren. Das schafften sie nur, wenn sie links und rechts ordentlich von einem Mitspieler gestützt wurden.

Der Star ist die Mannschaft. Deutschland hat keinen Messi, Ronaldo oder Sneijder in seinen Reihen, und genau das macht es so stark. Es ist ein Team und als solches für seine Gegner nicht so berechenbar. Mittlerweile fällt es schwer, daran zu glauben, dass viele dieser Jungs noch vor einem Jahr bei der Junioren-Europameisterschaft kickten. Sie haben sich als Mannschaft schneller als erwartet gefunden und entwickelt. Philipp Lahm ist ein arbeitender Kapitän, kein Reden schwingender. Und Bastian Schweinsteiger hat nach dem Ausfall von Michael Ballack die Chefrolle übernommen und füllt sie selbstlos aus.
3. Die Spezialisten
Haben Sie den Namen Albert Sing schon einmal gehört? Der Mann war Sepp Herbergers einziger Helfer beim „Wunder von Bern“ 1954, als Attaché des Weltverbandes Fifa wohlgemerkt und nicht als Angestellter des Deutschen Fußball-Bundes. Helmut Schön vertraute beim Gewinn der WM 1974 Assistent Jupp Derwall, Franz Beckenbauer hatte beim Triumph 1990 immerhin schon Co-Trainer Holger Osieck und Torwarttrainer Sepp Maier an seiner Seite. Und Joachim Löw?
Neben dem Bundestrainer, Assistent Hans-Dieter Flick, Torwarttrainer Andreas Köpke und Manager Oliver Bierhoff bilden offiziell 27 Spezialisten das „Team hinter dem Team“, inoffiziell umfasst der Stab wohl eher 40 Leute. Die wichtigsten:
Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt ist einer von drei Ärzten, dazu kommen vier Physiotherapeuten. Der Amerikaner Shad Forsythe führt die insgesamt vier Fitnesstrainer. Er zog extra nach Deutschland, um engen Kontakt zu den Vereinen der Nationalspieler aufzubauen. Bei ihm fließen alle Daten zusammen, die über die Fitness der Spieler erhoben werden.
Teampsychologe Hans-Dieter Hermann ist seit 2004 dabei. Er bietet Einzelgespräche sowie Gruppensitzungen an und sieht seine Aufgabe im langfristigen „Teambuilding“.
Chefscout Urs Siegenthaler analysiert mit seinem Team penibel Stärken und Schwächen der Gegner. Mit einer Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Sporthochschule Köln hat er bereits vor der WM jeden potenziellen Rivalen untersucht.
4. Der Chef
Noch vor wenigen Wochen war Joachim Löw um seine Aufgabe nicht zu beneiden. Nicht nur, dass dem Bundestrainer wichtige Spieler wegen Verletzungen ausfielen. Er entschied auch noch gegen den Willen vieler Fußball-Anhänger und -Experten, als er dem so treffsicheren Kevin Kuranyi die Rückkehr ins Nationalteam verweigerte und stattdessen Miroslav Klose mitnahm. Den Mann also, der beim FC Bayern seit Monaten nur noch im Training Bälle vor die Füße bekommen hatte.
Alles richtig gemacht, Deutschland gewinnt, Klose trifft, und Löws Kritiker stehen vor ihm in der Asche-auf-mein-Haupt-Schlange. Stellvertretend mag Günter Netzer erwähnt werden, der in der „Bild am Sonntag“ schrieb: „Löw hat die Skeptiker – unter anderem auch mich – eindrucksvoll widerlegt.“ Und zwar mit richtigen und mutigen Entscheidungen, wie sie vielen Politikern dieser Republik zu wünschen wären.
Löw hat, im Gegensatz zu einigen seiner Vorgänger, auf die öffentliche Meinung gepfiffen und eine Mannschaft nach seinen Vorstellungen gebaut. Diese vertritt Deutschland genau so würdevoll wie ihr Trainer. Löw ist gut gekleidet, wahrt stets die Manieren und trägt seine kleinen Laster nicht öffentlich zur Schau. Die Zigarette nach dem Spiel raucht er versteckt hinter dem Mannschaftsbus. Löws Vertrag läuft nach der WM aus, eine Verlängerung ist nach einigen Streitereien nicht sicher. Der Verband steht nun in der Pflicht, alles dafür zu tun, dass dieser Trainer mit seiner jungen Mannschaft weiterarbeiten wird.
5. Die Öffnung
Zwei Millionen Kinder sind unter dem Dach des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) vereint. Obwohl viele von ihnen Wurzeln jenseits deutscher Grenzen haben, ist es ein gängiger Wunsch, auch im Erwachsenenalter das Trikot mit dem Bundesadler tragen zu wollen. Mittlerweile, sei hinzugefügt.
Französische und niederländische Nationalmannschaften profitieren seit Jahrzehnten vom Potenzial ihrer Einwandererkinder, nun tut es auch die deutsche Auswahl dank intensiver Arbeit in den vergangenen Jahren. Dass elf von 23 Spielern in Südafrika einen Migrationshintergrund haben, ist ein großer Gewinn. Was wäre diese Mannschaft ohne den deutsch-türkischen Özil, den deutsch-tunesischen Khedira und den deutsch-polnischen Klose?
„Der spielerische Einfluss ist zu spüren“, sagt Bundestrainer Joachim Löw, viele dieser Kicker liebten es, guten Fußball zu spielen: „Sie wollen kombinieren und haben Spielfreude.“ England hat das zu spüren bekommen, Argentinien auch. Und der Erfolg strahlt ab. Fußball ist der Motor der Integration. Dass ein Özil für Deutschland brilliert, hilft hundertmal mehr als gut gemeinte Transparente, mit denen alle WM-Mannschaften am Wochenende dem Rassismus abschwören. Deshalb sagt DFB-Präsident Theo Zwanziger: „Die integrative Kraft des Fußballs ist einzigartig und hilft insbesondere Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, in der Gemeinschaft Fuß zu fassen.“ Wenn diese Gemeinschaft irgendwann die deutsche Nationalelf ist, umso besser...
6. Der Neuaufbau
Es war wohl der Rausch des Weltmeistertitels, der Franz Beckenbauer vor 20 Jahren zu einer verhängnisvollen Fehleinschätzung verleitete. Wenige Monate vor der Wiedervereinigung sagte der Teamchef des Deutschen Fußball-Bundes: „Wir sind jetzt die Nummer eins in der Welt, wir sind schon lange die Nummer eins in Europa. Jetzt kommen die Spieler aus Ostdeutschland noch dazu. Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird. Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber wir werden in den nächsten Jahren nicht zu besiegen sein.“
Es kam anders: Benebelt vom Gewinn der Europameisterschaft 1996 in England und dem Triumph bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien versäumte es der DFB, in den Nachwuchs zu investieren. Das Erwachen war brutal: In der Vorrunde der EM 2000 blamierte sich Deutschland gegen Portugals B-Elf und schied aus – wie übrigens auch vier Jahre später beim Europachampionat gegen ein Ersatzteam Tschechiens.

Nun reagierte der größte Sportfachverband der Welt. Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder initiierte ein Sichtungs- und Förderungsprogramm für die Jugend. Damit setzte der DFB ein Nachwuchskonzept in einer Dimension um, an die weltweit kein anderer Fußballverband heranreicht. Die Zahlen sprechen für sich: Etwa 22 000 Jugendliche im Alter von elf bis siebzehn Jahren werden in 390 Stützpunkten von rund 1200 Honorartrainern gefordert und gefördert.
Von 2005 an forcierte der neue DFB-Sportdirektor Matthias Sammer zusätzlich die Nachwuchsarbeit. Seit einigen Jahren ist es Lizenzbedingung für Bundesligavereine, ein eigenes Nachwuchszentrum zu betreiben. Von der kommenden Saison gilt das sogar für die Vereine der Dritten Liga.
7. Der Stil
Eine der schönsten Eigenschaften des Fußballs ist es, dass es so viele Arten gibt, ihn zu spielen. Offensiv, defensiv, direkt, mit der Hacke, dem Kopf, Fuß. Mit Verstand, mit Härte. Verzaubernd oder abschreckend.
Deutschland wurde für seinen Fußballstil in der Welt nie so sehr bewundert wie für seine schnellen Autos, was viele als ungerecht empfanden. Erst jetzt geht auch den ergebnisorientierten Anhängern ein Licht auf. Denn es geht auch schön. Die Deutschen spielen bei dieser WM den attraktivsten Fußball. Derartig rasant, dass selbst den Zauberern vom Zuckerhut nur einfällt: „Wunderkinder, wundervoll!“

Schon Jürgen Klinsmann hat die Nationalmannschaft für die WM 2006 auf ein schnelles Spiel umgestellt, und da eine solche Taktik beim Torhüter anfängt, fiel ihr sogar Oliver Kahn zum Opfer. Unterstützt vom Niederländer Louis van Gaal beim FC Bayern konnte Joachim Löw das deutsche Spiel weiterentwickeln. Nicht permanenter Ballbesitz steht im Vordergrund, sondern Raumgewinn und Schnelligkeit.
Ballverluste bedeuten keine Katastrophe mehr. Sie bedeuten Positionen beziehen, um die Balleroberung sofort wieder einzuleiten. Der Ball ist dabei der schnellste auf dem Platz. Gepflegt wird das Spiel wie folgt: Der Torwart bringt den Jabulani, so heißt der aktuelle WM-Ball, möglichst über die Außenbahnen ins Spiel. Jeder Spieler ist in Bewegung und bietet wie beim Flipper eine Anspielstation. Im Idealfall geht der Ball direkt von Spieler zu Spieler. Mit ein paar Doppelpässen gelangt er in die freien Räume, bis sich eine Einschussmöglichkeit bietet. So die Theorie. Damit auch das auch in der Praxis funktioniert, braucht Löw keine ballverliebten Stars, die die Kugel nicht mehr hergeben, sondern ein Team mit guter Physis. Das hat er. Und deshalb feiert Deutschland bei der WM so viele Tore.
http://www.welt.de/sport/wm2010/article8303223/Die-sieben-Geheimnisse-des-deutschen-Erfolges.html