Donnerstag, 18. Februar 2010

Sanfter Start ins Jahr des Tigers

REUTLINGEN. Neujahr ist leise. Es duftet nach Räucherstäbchen und schwelgt in Blütenträumen. Und es kommt für abendländische Verhältnisse ziemlich spät. Während der Westen schon längst mit Raketen und Prosit-Rufen ins Jahr 2010 »gerutscht« ist, richten vietnamesische Buddhisten erst jetzt den Blick auf das, was sie in nächster Zukunft erwarten mag. Nur noch wenige Stunden trennen sie davon. Es ist der Nachmittag des 13. Februar.

Andacht im Gebetsraum: So startet die vietnamesisch-buddhistische Gemeinschaft ins neue Jahr. FOTO: Stephan Zenke»Wir Buddhisten«, sagt Van Phat Nguyen, »orientieren uns am Mondkalender«. Dieser weist alle wichtigen Feiertage aus - auch Neujahr, das zu den ganz hohen Festen im Jahreslauf zählt. Têt wird es in Vietnam genannt. Têt wird es auch im buddhistischen Tempel in Reutlingens Wörthstraße genannt, wo die vietnamesische Glaubensgemeinschaft seit 2001 ihren spirituellen Mittelpunkt hat.

Hier, in einem ehemaligen Fabrikgebäude, hat ihr gemeinnütziger Verein Obdach gefunden. Hier unterhält er so etwas wie einen Miniaturkonvent. Eine Meisterin und eine Nonne sind's - beide auf Spendenbasis finanziert -, die eine für christlich-kirchliche Verhältnisse riesige Gemeinde betreuen. Denn ihr Aktionsradius reicht weit über die Grenzen Reutlingens hinaus. Hochzeiten oder Sterbefälle führen die Frauen nach Karlsruhe, Stuttgart, Göppingen und an den Bodensee. Seelsorge bedeutet für sie reisen. Zumal Reutlingen bis vor Kurzem das einzige vietnamesisch-buddhistische Zentrum im baden-württembergischen Raum war.

Erst vor einem Jahr hat eine zweite Seelsorge-Einheit ihre Pforten geöffnet: im oberschwäbischen Ravensburg. Das verblüfft. Denn in Baden-Württemberg leben und arbeiten Tausende Vietnamesen. Die meisten von ihnen sind Anfang und Mitte der 80er-Jahre als sogenannte »Boat People« in die Bundesrepublik gekommen, nachdem sie von der Hilfsorganisation Cap Anamur aus dem Chinesischen Meer gerettet worden waren. Auf der Flucht vor dem Kommunismus, vor Repressalien und Folter hatten sie versucht, in überfüllten und teilweise seeuntüchtigen Booten Hongkong oder Singapur zu erreichen. Viele gingen mit der Hoffnung auf Freiheit unter und ertranken jämmerlich.

Nicht so Van Phat Nguyen, der Schriftführer des Reutlinger Vereins. Er hat's geschafft. Mit 18 Jahren kam er ins sichere Deutschland, hat hier eine Familie gegründet, Wurzeln geschlagen. Der Mann spricht perfektes Deutsch. Deshalb soll er sich heute um die Presse kümmern.

Souverän pendelt er zwischen den Sprachen, erläutert, dass das buddhistische Neujahrs- ein großes Familienfest ist, bei dem sich Religiosität und profanes Brauchtum die Hand reichen; durchaus vergleichbar mit dem christlichen Weihnachtsfest, wo ja ebenfalls Folklore und Spiritualität aufs Engste miteinander verwoben sind. Was der Christenheit der Weihnachtsbaum sind den Buddhisten gelbe Kirschblütenzweige und Lotusblumen. Gelb ist die Farbe des Glaubens. Lotus steht für Reinheit. Beides dient Dekorationszwecken, findet sich aber auch auf dem Altar in der Wörthstraße wieder - überragt von Buddha, zu dessen Seiten zwei Propheten thronen. Unter dieser Trinität: Opfergaben. Litschis, Weintrauben, Clementinen und Räucherstäbchen. Alles ist vorbereitet für das gemeinsame Gebet, das Schlag 17 Uhr ins neue Jahr überleiten wird.

Jetzt strömen die Gläubigen zuhauf in die Vereinsräume. Vom Baby bis zur Greisin reicht das Altersspektrum der Festgemeinde, die ihre nassen Winterschuhe abstreift und gegen Badeschläppchen austauscht. Obwohl es in dem schmalen Korridor beengt zugeht, wird nicht gerempelt. Stille Vorfreude beseelt die Menschen. Und Schaffigkeit.

Zum Beispiel in der Vereinsküche. Ihr entweichen Wohlgerüche. Frauen beugen sich über Töpfe und Tiegel, befinden sich im kulinarischen Endspurt. Denn der Neujahrsandacht soll sich ein vegetarischer Festschmaus anschließen. Van Phat Nguyen witzelt: »Egal, was passiert, bei uns wird immer gegessen.«

Und immer bereitet sich jeder gründlich auf Têt vor. Neujahr wird bei den vietnamesischen Buddhisten nämlich wörtlich genommen. Jeder Jahreswechsel atmet Erneuerung. »Kinder werden eingekleidet, der Schmutz des alten Jahres buchstäblich aus den Wohnungen gefegt.« Eine neue Frisur gehört ebenso dazu wie der Versuch, ausstehende Schulden restlos zu begleichen. Mit Buddha, dem Wisser, dem Weisen, hat all das freilich wenig zu tun. Das ist ein rein weltliches Ritual, wie der Dolmetscher weiß.

In Erwartung der Andacht setzen sich die Gläubigen jetzt auf den Boden des Gebetsraums. Meisterin Nhu Vien streift sich ein gelbes Gewand über. Nonne Hanh Trang tut es ihr gleich. Sie ist erst vor vier Jahren nach Reutlingen gekommen. Auf eigenen Wunsch hin. Denn buddhistische Nonnen und Mönche haben diesbezüglich Wahlfreiheit.

Hanhs Bruder hat diese Freiheit nach Kanada geführt. Mit ihm korrespondiert die Nonne via Laptop. Wenn sie auch nur wenige weltliche Besitztümer ihr Eigen nennen kann, rückständig ist die 34-Jährige ganz und gar nicht. Auch das: eine Mitgift des Buddhismus, der von Van Phat Nguyen als tolerante Religion der Eigenverantwortung skizziert wird. Nicht eine höhere Wesenheit bestimmt das Schicksal der Menschen und zeichnet für Sündenvergebung verantwortlich, sondern jeder selbst.

»Im Deutschen gibt es das Sprichwort: Was der Bauer sät, erntet er«, zitiert Nguyen. Das komme der buddhistischen Lehre ziemlich nahe. Sie kennt, sagt er, fünf Gebote - »nicht töten, nicht stehlen, treu sein, keine Rauschmittel konsumieren und nicht lügen«. Aus Respekt vor der Kreatur wird außerdem empfohlen, kein Fleisch und keinen Fisch zu verzehren.

Vor diesem Hintergrund mutet es befremdlich an, dass die Festtagstafel der Gemeinde ausgerechnet im Versammlungsraum des Reutlinger Fischereiverbands gedeckt ist, von dessen Wänden präparierte Schuppentiere mit blinden Augen auf die vietnamesischen Buddhisten runtergucken. Als störend empfindet das allerdings niemand. »Warum auch?«

Gleichwohl sucht der Verein nach größeren Räumlichkeiten zu erschwinglichen Konditionen. Würde das neue Jahr ein neues Domizil mit sich bringen - es wäre »wunderbar«. Auf Wunder möchte Van Phat Nguyen allerdings nicht bauen und nimmt deshalb herzlich gerne Tipps und Immobilien-Angebote unter Telefon 01 75/4 34 84 42 an.

Mittlerweile hat das Gebet begonnen. Die Meisterin rezitiert ein Sutra. Psalmierend klingt das in westlichen Ohren - ein sanfter Singsang auf Vietnamesisch, immer wieder begleitet von Schlägen an Klangschalen. Eine knappe Stunde dauert die Andacht. Dann formiert sich die Festgemeinde zur Menschenschlange. Einer nach dem anderen verneigt sich vor Meisterin Nhu Vien und nimmt Geschenke entgegen - unter anderem ein rot-goldenes Kuvert. Inhalt des Umschlags: eine Ein-Dollar-Note, die den typisch vietnamesischen Têt-Wunsch nach »Wohlstand« versinnbildlicht.

Das »Jahr des Tigers« ist jetzt ein paar Minuten alt, das Büffet eröffnet. Man schmaust und plaudert, lacht und genießt. Was 2010 auch bringen mag, sein Beginn - so viel steht fest - ist ausgesprochen lecker. (GEA)

http://gea.de/region+reutlingen/reutlingen/sanfter+start+ins+jahr+des+tigers.946280.htm