Donnerstag, 29. April 2010

Er ist ja nur der Papst

Martin Mosebach
Vor fünf Jahren wurde Joesph Ratzinger zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt. Vom Missbrauchsskandal erschüttert, erlebt sie nun die größte Krise ihrer Geschichte. Ist Benedikt gescheitert? Der Schriftsteller Martin Mosebach behauptet das Gegenteil: Der Papst, schreibt er, sei der richtige Mann am richtigen Ort. Nur Benedikts konsequenter Kampf gegen den Relativismus der modernen Gesellschaft könne die Kirche vor dem sicheren Untergang retten

Dieses Konzil behauptet eine Ausnahmestellung unter den Konzilien der Kirchengeschichte: Während in der Vergangenheit ein Konzil den theologischen Streit entschied, der sich angesammelt hatte, und eine Phase der Konsolidierung einleitete, eröffnete das II. Vaticanum, das in seinen Konstitutionen weitgehend die überlieferte Lehre der Kirche bestätigte, eine Zeit der theologischen Kontroverse, der Unsicherheit, des Substanzverlustes und der manifesten Traditionsbrüche.

Eine "Öffnung zur Welt" hatte es einleiten wollen, aber nach vierzig Jahren musste man sich eingestehen, dass die Kirche ihre ureigenen Anliegen weniger denn je verständlich machen konnte, dass ihr trotz höchster Beflissenheit, sich der säkularisierten Sphäre anzuverwandeln, die Sprache verloren gegangen war, ihr Proprium zu vertreten. Theologisches Chaos hatte zur Folge, dass in vielen Ländern kein nennenswerter Religionsunterricht mehr stattfand; in Deutschland ist das katholische Christentum gerade auch unter Katholiken zur unbekannten Religion geworden. Manche sprachen von einer Revolution in der Kirche; ihr inneres und äußeres Erscheinungsbild hatte sich so radikal verändert, dass von "Entwicklung" und "Entfaltung", den Lieblingsbegriffen der Ekklesiologie, kaum mehr die Rede sein konnte.

Diese schwarze Bilanz war aber weit davon entfernt, Benedikt XVI. zu entmutigen. Obwohl er mit ausgeprägtem Sinn für die Geschichte die Zeitläufe betrachtet, ist die Kirche für ihn nicht mit historischen, soziologischen oder politischen Größen zu erfassen. Benedikt glaubt an die Kirche, wie es im Credo ausgesprochen wird, er glaubt an ihre Leitung durch den Heiligen Geist und glaubt an ihre Fähigkeit, sich von einem Fall wieder zu erheben. Für ihn ist die Vorstellung, die Kirche habe eine Revolution erlebt, eine Täuschung, eine manchen auch lieb gewordene Illusion. Da die Kirche Jesu Christi auf die Überlieferung dessen verpflichtet ist, was sie empfangen hat, kann es keine Revolution in ihr geben. Wo es keine Revolution gegeben hat, kann es aber auch keine Reaktion geben.

Benedikt wandert als Papst auf dem Weg zwischen Revolution und Reaktion, weil er diesen Weg für den Weg der Kirche hält. Besonders deutlich wird dieser Weg in seinem Jesus-Buch, das die Erkenntnisse der neuzeitlichen kritischen Lektüre mit der Überzeugung verbindet, dass die Märtyrer der jungen Christenheit nicht für eine philologische Chimäre gestorben sind. Auf der Suche nach einer Versöhnung mit der Orthodoxie oder der Versöhnung der politisch gespaltenen chinesischen Katholiken geht er Wagnisse ein, die einem Konservativen nicht möglich wären. In der geistlichen Ausgedörrtheit der zeitgenössischen Kirche bedeutet eine Änderung der Atmosphäre schon viel.

Wieso empfindet eigentlich keiner der kritischen Köpfe Unbehagen bei der Forderung, die Kirche müsse sich der Gegenwart und ihren gesellschaftlichen Tagesvorstellungen vorbehaltlos unterwerfen? Wieso soll es nur die säkulare Zivilgesellschaft sein, die allen und damit auch der Kirche ihre Maßstäbe vorgeben darf? Kirchenhistorisch gesehen hat die Kirche im Nachhinein immer schlecht dagestanden, wo sie sich der Zeit allzu widerstandslos anbequemt hat. Vor einer Fortdauer dieses gefährlichen Zustandes möchte der Papst die Kirche im Interesse ihrer Zukunft bewahren.

Papst Pius X., heiliggesprochener Förderer des gregorianischen Chorals und der überlieferten Liturgie, wurde von eifrigen Frommen gebeten, in den Messkanon, das Hochgebet der Messe, unter die lange Reihe der darin seit alters genannten Heiligen auch den Ehemann Mariens, den heiligen Joseph aufzunehmen. Das könne er nicht, war die Antwort von Pius: "Ich bin ja nur der Papst."

Kein besseres Wort gibt es als dieses, um das Selbstverständnis Benedikts XVI. von seinem Amt zu charakterisieren. Er ist nach seiner Auffassung "nur der Papst". Schon als Kardinal hatte er Definitionen des Unfehlbarkeitsdogmas gegeben, die weit von naivem Triumphalismus und päpstlicher Allmacht lagen: die den päpstlichen Lehrentscheidungen zugesicherte Unfehlbarkeit bedeute nichts anderes als die Unterwerfung des Papstes unter die Tradition.

Wahrscheinlich hat ihm, als er bei seiner Wahl den Namen Benedikt annahm, neben den mit diesem Namen verbundenen Assoziationen auch die hohe Ordinalzahl gefallen, die ihn zum sechzehnten der Benedikte machte, einen in einer Reihe von vielen. Papstsein heißt für ihn nicht, die Kirche und das Papsttum neu zu erfinden, sondern in Demut aus den Händen aller Vorgänger zu empfangen, was dem Nachfolger unversehrt weitergereicht werden muss. Der Papst gehört für ihn nicht zu den Vollbringern außergewöhnlicher Taten, zu den Politikergestalten, deren Kategorie Machterhalt und Taktieren sind. Je höher die Ziele des Papsttums gesteckt sind, desto sanfter soll der Papst verfahren; sein Blick geht nicht auf die nächste Wahl, sondern auf eine weite Zukunft.

Was heute unverstanden bleibt, kann ein tragfähiges Fundament für diese Zukunft werden. Benedikt begreift sein Wirken wie das eines Gärtners, der alles tut, um Früchte zu erzielen, die er selbst und seine Zeitgenossen nicht genießen werden. In einer von tiefer Unsicherheit und Maßstablosigkeit gezeichneten Gegenwart löst der Papst, der sich seine Agenda nicht von einer kirchenfremden Tagespresse diktieren lässt, sondern seine langfristigen Ziele nicht aus den Augen verliert, eine Empörung aus, die gelegentlich geradezu in Hass umschlägt. "Nur der Papst zu sein" - unlösbar gebunden an ein nicht von ihm selbst geschaffenes Gesetz, das ist für eine Gesellschaft, die jeden Wert grundsätzlich der Revision unterworfen wissen will, ein unerträgliches Ärgernis.

Der Sittenskandal, der gegenwärtig vor allem in Deutschland und Irland die Kirche erschüttert, nachdem ihm die Aufdeckung einer Missbrauchsserie in den Vereinigten Staaten vorangegangen war, ist wohl das gewichtigste Ereignis, das den Papst zur Zeit des fünften Jahrestages seiner Wahl beschäftigt. Auch wenn in der leidenschaftlich geführten Diskussion um dieses Phänomen inzwischen jedermann klar geworden sein dürfte, dass es sich beim Kindesmissbrauch um Verbrechen handelt, die in der ganzen Gegenwartsgesellschaft weit verbreitet und keineswegs für den Klerus der katholischen Kirche besonders bezeichnend sind, nimmt der Papst diese Taten einzelner Priester wohl durchaus als schlimmes Symptom für den Zustand der Kirche, die in der Zeit nach dem II. Vatikanischen Konzil in die 68er-Bewegung geriet und dabei weithin ihre bis dahin über alle Umwälzungen bewahrte Identität über Bord warf.

Es ist das Neue Testament selbst, das den Schutz der Kinder vor geschlechtlichem Missbrauch in einer Welt verkündigte, die Bedenken gegen erotische Beziehungen mit Kindern nicht kannte; der Schutz der Kinder ist genuin christliche Botschaft - ein Priester, der sich dagegen vergeht, hat deshalb keineswegs nur sein Gelübde gebrochen, sondern ist auch in seinem Glauben gescheitert. Für die katholische Kirche ist der Missbrauchsskandal der triste Höhepunkt der nachkonziliären Entwicklung; es ist die beschämendste Frucht jeder Ideologie des "Aggiornamento", die die letzten vierzig Jahre prägte.

Obwohl das Konzil die überlieferte Theologie des Priestertums noch einmal bestätigt hatte, war davon in den darauf folgenden Jahrzehnten nur noch wenig übrig geblieben. Die Priester wurden angehalten, ihre Priesterkleidung abzulegen, die Pflicht, täglich die Messe zu zelebrieren und das Brevier zu beten, wurde aufgehoben, die Sakralität des Priesteramtes wurde geleugnet.

Vergessen wurde, dass die evangelischen Räte neben der Keuschheit ebenso eindringlich Armut und Gehorsam fordern - das katholische Priestertum ist seinem Wesen nach eine zutiefst unbürgerliche Institution, die den bürgerlichen Werten Autonomie und Selbstverwirklichung scharf entgegengesetzt ist; aber diesen Gegensatz empfand nun nicht mehr nur die Gesellschaft, sondern auch der Klerus, der höhere vor allem als unerträglich. Jede Gegenbewegung war aussichtslos, solange sich die Aggiornamento-Kirche, in Deutschland durch den langjährigen Vorsitzenden der Bischofskonferenz Kardinal Lehmann und durch die Funktionäre des Zentralkomitees der deutschen Katholiken repräsentiert, sich in der Sonne der gesellschaftlichen Zustimmung wärmen konnten; jetzt, nachdem der intellektuelle und moralische Glanz des Aggiornamento-Experiments in Peinlichkeit versunken ist, wird es eher möglich sein, an die Grundlagen des katholischen Priesterbildes zu erinnern und zu den tradierten Prinzipien zurückzukehren.

Sosehr der Papst unter den der Kirche durch die Missetäter geschlagenen Wunden leidet - gewiss viel mehr als unter den gehässigen Angriffen auf seine Person, die journalistische Trittbrettfahrer mit dem Skandal verbanden -, so hoffnungsvoll kann er sein, bei der nachwachsenden Priestergeneration mit seiner Einladung zu einer Erneuerung des katholischen Priestertums gehört zu werden. Ein gutes Zeichen war die Loyalitätsadresse, die der frühere Kardinalstaatssekretär Sodano an ungewöhnlichem Ort, während der Ostermesse, vortrug, mit der er den Papst der Treue des Klerus versicherte. Sodano war lange Zeit Antagonist des Kardinals Ratzinger, ein Mann des "nachkonziliären Prozesses" - nun scheint der Punkt gekommen, wo alte Gegensätze begraben werden; auch dies darf dem Papst für seine nächsten Schritte Hoffnung geben.

Es hilft nichts, der veröffentlichten Meinung ihre offenkundige Verständnislosigkeit für die Besonderheiten der katholischen Kirche vorzuwerfen, ohne zugleich zuzugeben, dass es die große Orientierungslosigkeit weiter Kreise der Kirche selbst war, die sich in den Jahrzehnten nach dem II. Vatikanischen Konzil nicht mehr Rechenschaft über die eigenen Prioritäten ablegen wollte. Man kann billigerweise von Laien, die oft genug nicht einmal Christen sein wollen, nicht mehr Kenntnisse von der Natur der katholischen Kirche erwarten, als die sie selbst vermittelt. So wurde die Krise der nachkonziliären Liturgie selbst von denen, die den Einbruch der Banalität und der Traditionsvergessenheit in die liturgischen Feiern erkannten und gar beklagten, als ein Randproblem von bloß ästhetischer Bedeutung angesehen.

Was die Liturgie für die Kirche wirklich bedeutet, ist weithin selbst bei Katholiken in Vergessenheit geraten. Dabei hätte auch den unbeteiligten Beobachter nachdenklich machen müssen, dass die Kirche bis zum Eingreifen Papst Pauls VI. über die Jahrtausende hinweg an der überlieferten Gestalt der Liturgie festgehalten hatte. Die tiefen, oft katastrophalen Umbrüche in der Geschichte seit der Spätantike hatte ihr keine Veranlassung gegeben, diese Liturgie zu verändern, die in ihrem lebendigen Vollzug noch heute den Charakter der Gründungszeiten des Christentums erfahren lässt.

Diese Treue zur Überlieferung wurzelte in dem Wissen, dass sich in der Lehre Jesu Christi der Inhalt nicht von der Form trennen lässt: Die alte Formel "lex orandi, lex credendi" besagte nichts anderes, als dass die ganze Fülle des katholischen Glaubens in seiner paradoxalen Komplexität in der von den Ursprüngen her vorgegebenen liturgischen Feier zum anschaubaren Ereignis wurde. In der Religion der göttlichen Inkarnation kann es im Prinzip keine bloßen Äußerlichkeiten geben. Die körperlichen Vollzüge der Liturgie werden als wahrheitsträchtig, wahrheitsgesättigt begriffen; Modifikationen oder gar Neuschöpfungen im liturgischen Raum werden immer auch Eingriffe in den Körper der Lehre selbst zur Folge haben. Das ist keine theoretische Behauptung, sondern durch die nachkonziliäre Erfahrung tausendfach bewiesen. In der Kirche der Gegenwart sind Kernbegriffe wie Sakrament und Priestertum oft bis zur Unkenntlichkeit verdunkelt.

Papst Benedikt ist sich seit Langem dieser vitalen Gefahr für die Kirche bewusst. Die Kirche ist ja keine Partei, die ideologischen Ballast abwerfen kann, wenn er ihrem Machterhalt nicht mehr opportun ist. Ihr Ziel ist Universalität, aber nicht um den Preis der Aufgabe ihrer Wahrheit. Wenn diese Wahrheit nicht mehr mehrheitsfähig ist, umso bedauerlicher für die Mehrheit. Gleichzeitig sieht er seine Aufgabe darin, die theologische Unruhe der letzten Jahrzehnte zu besänftigen, und deshalb wohl sucht er einen schroffen Kurswechsel zu vermeiden. Sein starker historischer Sinn erkennt in den Fehlentwicklungen, die er diagnostiziert, nicht einfach persönliche Schuld und Versagen der Verantwortlichen, sondern den mächtigen Einfluss einer zeittypischen Mentalität, der nicht mit Befehlen beizukommen ist. Die Heilung der Wunden, die die innerkirchlichen Unruhen gerissen haben, kann nur allmählich geschehen, "Geduld" ist eines der wichtigsten Wörter dieses Papstes, der es hinnimmt, bei Freunden und Feinden unverstanden zu sein, und auf die allmähliche Entfaltung seiner Gedanken in der Zukunft vertraut.

Für die Rettung der Liturgie der Kirche war einer rebellischen Priestergruppe um den französischen Erzbischof Lefebvre, der Priesterbruderschaft S. Pius X., eine entscheidende Rolle zugefallen; die Bischöfe dieser Bruderschaft waren gegen das Verbot Papst Johannes Pauls II. ordiniert worden und befanden sich im Zustand der Exkommunikation. Papst Benedikt hob nun die Ächtung der angestammten Liturgie auf und erklärte, dass es niemals in der Macht der Kirche gestanden habe, sie zu verbieten.

Zu dem Rettungswerk der überlieferten Liturgie gehört auch die Versöhnung mit den fünfhundert Priestern dieser Bruderschaft, die für ihren vom Papst für gerechtfertigt erklärten Kampf um die Erhaltung der Liturgie empfindliche Nachteile in Kauf genommen hatten, sich in der Isolation der Ausstoßung freilich theologisch und politisch höchst bedenklich entwickelten. Im Bewusstsein der Verantwortung, die die Kirche für jeden einzelnen der Pius-Priester trägt, wagte der Papst eine Entscheidung von einzigartigem Mut, mit der er bedenkenlos die Verständnislosigkeit einer der katholischen Tradition entfremdeten Öffentlichkeit provozierte: In priesterlicher Generosität beendete er den gefährlichen Zustand der Ausgestoßenheit dieser überwiegend sehr jungen Priester und setzte sein Vertrauen auf eine Wiederannäherung im Geiste geduldiger und respektvoller Überzeugungsarbeit und einer offenen theologischen Diskussion.

Der Skandal, der mit diesen Vorgängen verbunden war, verdeckte für die Medien die kirchengeschichtliche Dimension der päpstlichen Entscheidung. Einer der von der Exkommunikation befreiten Bischöfe, der Engländer Williamson, in seinem Orden als eitler Exzentriker gefürchtet, war im Fernsehen als Leugner der Judenermordungen im Zweiten Weltkrieg aufgetreten; da der vatikanische Pressesprecher es nicht für nötig gehalten hatte, der Öffentlichkeit den geistlichen Charakter einer Exkommunikation und deren Aufhebung zu erläutern, entstand der Eindruck, der Papst habe den politischen Irrsinn dieses Bischofs rehabilitieren wollen. Das Gegenteil war bekanntlich der Fall. Aber selbst wenn die "Panne", wie der Papst das Versagen des Pressesprechers genannt hat, nicht geschehen wäre - musste man nicht damit rechnen, dass die theologische Unbildung auch der katholischen Journalisten nach vier nachkonziliären Jahrzehnten dennoch verhindert hätte, dass die Intentionen Benedikts sofort verstanden worden wären? Durfte er ein Kernanliegen seines Pontifikats in der Geiselhaft eines einzelnen Mannes lassen, dessen Anschauungen er verabscheute? Erste Frucht der päpstlichen Entscheidung war, dass es der Pius-Bruderschaft endlich gelang, Williamson ihrer Leistungsgremien zu verweisen.

Die Einigungsgespräche mit der Pius-Bruderschaft verlaufen in der Ruhe und dem geistlichen Ernst, die der Behandlung theologischer Probleme angemessen sind. Es scheint, dass die Hoffnung auf eine Versöhnung mit der Pius-Bruderschaft weiterhin nicht unberechtigt ist. Und zugleich ist bei den jungen Priestern an vielen Orten der katholischen Welt schon jetzt ein neues Gefühl für die Bedeutung der Liturgie und ihre Verbindung mit der großen sakramentalen Tradition der Kirche festzustellen. Das sind Veränderungen, die keine Schlagzeilen machen, ein allmähliches, zunächst von außen kaum merkliches Umdenken; dies geschieht in genau der Art, die diesem Papst am Herzen liegt: als zunächst geräuschloser Sinneswandel, als organische Entwicklung.

Eine uralte Formel nennt auf offiziellen Dokumenten der Kirche jeden Papst, gleichgültig ob er sich in höchster Bedrängnis befand oder ob ihm seine historische Stunde günstig war, "feliciter regnans - einen glücklichen regierenden Papst". Es könnte so aussehen, als hätte diese Formel, auf Benedikt XVI. angewandt, einen ironischen oder gar bitteren Beigeschmack.

Hat ein Mensch, der mit jeder seiner Äußerungen Fehldeutungen auslöst, wirklich Glück? Der als erster Papst seit Petrus den Versuch unternimmt, das Neue Testament mit den Augen eines Juden zu lesen, und dem dennoch beständig der Ruf entgegenschallt, er sei Antisemit? Der mit seiner Regensburger Rede den ersten wirklich profunden und überaus fruchtbaren Dialog der katholischen Kirche mit dem Islam angestoßen hat und der stattdessen beschuldigt wird, das Verhältnis zum Islam zerstört zu haben? Der den Missbrauch von Kindern durch Priestern mit einer Schärfe verurteilt hat, als habe er das christliche Mitleid mit den Sündern vergessen, und dafür beschimpft wird, er decke in Wirklichkeit die Übeltäter?

Das Gegenteil von Glück ist Pech. Hat Papst Benedikt einfach Pech? Gelingt es seinen Gehilfen nicht, den Papst wirkungsvoller "zu verkaufen", wie eine Redewendung lautet, die suggeriert, man könne mit den richtigen, den durchtriebenen Methoden alles an den Mann bringen? Im einzelnen Fall könnte dieser Eindruck entstehen, aber wenn man alles zusammennimmt, dann erkennt man schnell: Nein, Pech ist das falsche Wort.

Natürlich ist da die Erinnerung an die öffentlichen Erfolge seines Vorgängers, des die Herzen bezwingenden Johannes Paul II. Er führte die Kirche zu einer Präsenz in der Welt, die nur noch mit der Wirkung der mittelalterlichen Päpste vergleichbar war. Aber es ist kein Geheimnis, dass hinter einer strahlenden Fassade der innere Zustand der Kirche längst aufs Höchste gefährdet war. Die spirituelle Aushöhlung hatte bedrohliche Ausmaße erreicht. Ist es sehr zynisch, zu vermuten, dass eine solche Kirche vielen ihrer Feinde nicht unwillkommen war? Eine Kirche, die dabei war, ihr religiöses Gewicht zu verlieren, ihre Andersheit, ihre Sakralität - mit der kam man zurecht, da konnte die alte, immer noch aktuelle Devise Voltaires "Écrasez l'infâme" eine Weile zur Seite gelegt werden.

Bei Benedikt spürt man den beinahe schon vergessenen Wahrheitsanspruch der Kirche zurückkehren; es wird deutlich, dass der Papst es mit seinem Kampf gegen den Relativismus ernst meint und dass er vor allem die Katholiken dafür gewinnen will, wieder katholisch zu sein. Das begreift ein einflussreicher Teil der veröffentlichten Meinung als Kriegserklärung. Ihre Antwort darauf ist: Dieser Papst darf keinen Fuß auf den Boden bekommen. Wäre er ein Politiker, er müsste nervös werden. Aber die Stärke dieses sanften und behutsamen Mannes, der für sich selbst die Anwendung von Machtmitteln ablehnt, besteht darin, dass er eben kein Politiker ist.

Er hat seine Aufgabe erkannt, er ist der Einzige, der sie erfüllen kann, er ist an der richtigen Stelle - ist das nicht auch Glück? Und deshalb ist Benedikt XVI. im vollen Wortsinne gleichfalls ein "glücklich regierender Papst".

Nguồn: http://www.welt.de/die-welt/kultur/literatur/article7230105/Er-ist-ja-nur-der-Papst.html